||» Rezension «|| Die Farbe von Milch [von Nell Leyshon]

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1. Januar 2020 0 Von Patchis Books
DIE FARBE VON MILCH
Nell Leyshon
Belletristik
Einzelband
208 Seiten
11. März 2019
Heyne Verlag
Taschenbuch
10,00€
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#werbung

Mein Name ist Mary. Mein Haar hat die Farbe von Milch. Und dies ist meine Geschichte.

(c) by Heyne

Ich bin mir schon jetzt sicher, dass diese Rezension alles andere als struktiert wird, aber wir versuchen das jetzt einfach mal. Vorweg: ich habe nur diesen einen Satz als Klappentext angegeben, weil ich selbst nicht mehr über den Inhalt wusste und das, jetzt rückblickend, als das beste sehe, was mir passieren könnte. Allein dieser Satz hat aber meine Neugier schon so sehr angefacht, dass ich es immer lesen wollte; doch jetzt erst ist es mir möglich gewesen. Nun aber genug drum herum geredet – falls ihr mehr über den Inhalt wissen möchtet, schaut einfach mal auf der Verlagsseite oder bei Amazon vorbei. Jetzt erzähle ich euch aber endlich, ob mich das Buch überhaupt begeistern konnte oder ob ich zu viel in diesen einen Satz auf der Rückseite des Buches hinein interpretiert habe. Viel Spaß.

Die ganze Geschichte spielt sich im Jahre 1830 bzw. 1831 ab und offenbart die damaligen Lebensumstände mit erschreckender Genauigkeit. Mary wächst in einer Bauernfamilie auf, arbeitet trotz ihrer körperlichen Behinderung in Form eines deformierten Beins, von früh bis spät im Stall und dem Feld und erfährt nur wenig Liebe und Zuneigung. Stattdessen erzählt Nell Leyshon von Hunger, Leid und häuslicher Gewalt, von Glauben und einem Leben, das sich heutzutage keiner mehr vorstellen kann. Auch zeigt sie auf, dass ein Umbruch nicht immer gutes mit sich bringen muss und dass Hoffnung manchmal einfach erlischt.
Das Buch beginnt mit einem intensiven Einblick in Mary’s Alltag und ihr tristes, trostloses Leben. Mitzuerleben, wie dieses junge Mädchen von eingespannt wird und schon beim kleinsten Fehler bestraft wird, war eine wahre Tortur. Trotzdem empfand ich den Einstieg als äußerst gelungen, denn als Leser bekommt man so genügend Zeit, sich ein Bild von dem Begebenheiten und von Mary zu machen. Aber auch um sich an den Schreibstil, der wahrlich besonders ist, zu gewöhnen. Außerdem weckt dieser Start durchaus Neugierde, fesselt schon genug, um mehr über Mary und ihre Geschichte erfahren zu wollen. Eine gewisse, unterschwellige Spannung ist also von der ersten Sekunde an gegeben, sodass es einem schwer fällt, das Buch auch mal aus den Händen zu legen. Trotzdem lebt das Buch viel eher von den neuen Eindrücken des damaligen Lebens, die man gewinnt und der Sympathie, die man Mary gegenüber empfindet. Meiner Meinung nach erzählt das Mädchen in einem sehr ruhigen Tempo, nimmt sich Zeit und schildert genau, was sich zugetragen hat.
Im Laufe der Seiten fragte ich mich immer wieder, ob da denn überhaupt noch was nennenwertes passiert oder ob Mary einfach wahllos ein Jahr ihres Lebens offenbart. Es war einfach nicht klar, worauf alles hinauslaufen wird und als dann die große Wende kam, war ich umso überraschter, dass es doch so eine Heftigkeit an den Tag legte. Damit hatte ich, nicht zuletzt auch wegen den ansonsten eher monotonen Geschehnissen absolut nicht gerechnet und war wahrlich sprachlos. Ab diesem Moment kann und will man dann keine Sekunde mehr Pause machen, sondern endlich das Ende erfahren. Ich bin noch immer geflasht und weiß nicht recht, wie ich meine Empfindungen in Worte fassen soll. Eigentlich ist es bis kurz vor Ende weder großartig spannend noch besonders spektulär, doch diesen Anlauf hat die Geschichte schlicht und einfach gebraucht, damit das „Finale“ dann diese Wirkung entfalten und so einschlagen konnte, wie es das tat.

Dank des sehr außergewöhnlichen Schreibstils erlangt das Buch noch einmal eine neue Dimension an Lebendigkeit und Authensität. Nell Leyshon lässt nämlich Mary sprechen, und zwar so, als würde das Mädchen tatsächlich persönlich von Angesicht zu Angesicht erzählen. Zu Beginn war das etwas, was mich nicht nur verwirrte, sondern auch ein wenig aufhielt. Ich habe wirklich Zeit gebraucht, um mich an die Einfachheit und das Umgangssprachliche zu gewöhnen. Um mal ein Beispiel zu nennen: Mary ihr Zimmer liegt im zweiten Stock des Hauses – und tagein tagaus heißt es im Buch „ich ging die Treppe hoch und ging die Treppe nochmal hoch“. Oder sie berichtet unzählige Male, wie sie den Kamin anheizt. Allein ihre morgendliche Routine wird immer wieder genaustens und meist sogar wortgleich erzählt – aber das wirklich überraschende ist dabei, dass trotzdem keine Langeweile aufkam. Es glich einfach einem Tagebucheintrag. Es fühlte sich echt und greifbar an, authentisch und verlieh dem Buch eine besondere Note. Ich kannte so was nicht, kann aber vermelden, dass mir das unglaublich gut gefallen hat und ich nie gedach hätte, dass es einer Geschichte sogar noch in die Karten spielt. Desweiteren wird dabei auch auf Kommas, wörtliche Rede und sonstige Satzzeichen verzichtet. Am Anfang noch seltsam, doch wenn man sich mal vor Augen führt, dass Mädchen in dieser Zeit meist nicht in der Lage waren, überhaupt zu lesen, geschweige denn zu schreiben, ist es nur umso glaubhafter, dass Mary auf solch Banalitäten wie Anführungszeichen und Co. verzichtet.

Die Figuren wirkten tatsächlich wie aus den 1830er Jahren entsprungen. Nell Leyshon hat die Charakterzüge sehr schön eingefangen und widergegeben und so noch mehr Greifbarkeit und Realität in das Buch gebracht. Neben unserer Protagonistin Mary, zu der wir gleich kommen, gab es noch etliche andere Charaktere, die sich gut voneinander unterschieden und durch verschiedene Wesensmerkmale voneinander abhoben. So beispielsweise Mary’s Schwestern, die mir besonders gut gefielen, da sie alle zwar das gleiche Schicksal hatten, aber ganz unterschiedlich damit umgingen. Die eine gläubig, die andere zickig, die letzte rebellisch – und mitten drin die behinderte Mary. Obwohl man deutlich merkt, dass das Verhältnis zwischen den vier Mädchen angespannt war, schimmert doch an manchen Stellen die geschwisterliche Liebe und Loyalität durch, die untereinander herrscht.
Die Eltern von Mary hätten nicht perfekter für die Handlung und das Buch an sich sein können. Obwohl so manche Tat bei mir auf absolutes Unverständnis traf, leuchtet doch ein, dass es damals einfach normal war, wenn mal körperliche Züchtigungen und Strafen verteilt wurden. Das allein fand ich äußerst glaubhaft, und realistisch. Der Großvater tat mir in erster Linie leid, doch wenn man eben nichts mehr zum Lebensunterhalt beiträgt, war mal damals nichts mehr wert und das wurde von der Autorin in Form des Opas wirklich deutlich aufzeigt.
Ich könnte jetzt noch über alle anderen Figuren sprechen, doch im Endeffekt läuft es eh darauf hinaus, dass ich sage, sie waren alle essentiell für die Geschichte, sehr lebendig und authentisch – von Sympathie will ich aber definitiv abstand nehmen.
So verhielt es sich auch mit Mary. Man ist neugierig darauf, was das Mädchen erlebt hat, man ist gespannt, wie sie mit dem Erlebten umgeht – aber so eine richtige Bindung konnte ich nicht zu ihr herstellen. Ich verstand ihre Gedanken und Handlungen, empfand sie als nachvollziehbar und ihr unbedachtes Mundwerk sorgte für den ein oder anderen Schmunzler, aber die Distanz blieb. In erster Linie schiebe ich das für meinen Teil auf die Tatsache, dass wir in zwei komplett unterschiedlichen Welten leben und es mir dadurch wohl etwas schwer fiel, sie richtig gern zu haben. Ich hatte immerzu ein junges Mädchen, fleißig und emsig, wie aus einem alten Film oder einer alten Serie vor Augen; die Mary als Person. Allgemein erinnerte sie mich so manch eines Mal an Laura von „Unsere kleine Farm“, aber das ist ein anderes Thema.
Kurz und knapp: es hätte keine Figur gegeben, die besser für die Rolle der Mary gepasst hätte. Sie verlieh dem Buch Tiefgang und Spannung, man lernte sie ausreichend gut kennen und war ihr, allein durch den Stil, schon nah genug, um mitfühlen zu können. Auch an Lebendigkeit und Glaubwürdigkeit mangelte es der 15-jährigen nicht.

Mit „Die Farbe von Milch“ liefert Nell Leyshon ein Buch, das zurecht schon einige Male für Preise nominiert war. Die Geschichte kommt absolut authentisch daher, ist sprachlich betrachtet einmalig erzählt und überzeugt durch eine intensive, berührende und mitreißende Geschichte voller Leben. Die Lebensumstände der 1830er Jahre sind erschreckend und schockierend und die Autorin fängt diese Empfindungen sehr gut ein und gibt sie wider. Ich konnte in dem Buch komplett versinken und bin rückblickend enorm froh, dass ich vorher kaum etwas über den Inhalt wusste. Falls ihr mit dem Gedanken spielt, es ebenfalls zu lesen, empfehle ich euch, nicht mehr als den Klappentext, der oben steht, zu lesen – man würde sich, meiner Meinung nach, viel zu viel vorweg nehmen. Für mich hat es nicht ganz zum Highlight gereicht; dafür fehlte mir einfach das gewisse Etwas, aber wir schrammen knapp daran vorbei und deshalb gibt’s von mir eine absolute Lese-Empfehlung.

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Nell Leyshons erster Roman Black Dirt stand auf der Longlist des Orange Prize und auf der Shortlist des Commonwealth Prize. Ihre Theaterstücke und Hörspiele erhielten ebenfalls zahlreiche Auszeichnungen. Für ihren zweiten Roman Die Farbe von Milch wurde sie neben James Salter und Zeruya Shalev für den Prix Femina nominiert. Nell Leyshon wurde in Glastonbury geboren und lebt in Dorset.

(c) by Heyne

An dieser Stelle möchte ich noch einmal darauf hinweisen, dass diese Rezension meiner ganz persönlichen Meinung entspricht und bei jedem Leser anders ausfallen kann. Außerdem möchte ich mich gerne beim Heyne Verlag bedanken: dafür alle Bilder und Klappentexte sowie Zitate benutzen zu dürfen.