||» Rezension «|| Wunderland [von Martin Krist]
Martin Krist
Thriller
Band 8 von [?]
412 Seiten
» Leseprobe bei Amazon «
(c) by Martin Krist
Obwohl ich vor etlichen Jahren schon mal was von Martin Krist gelesen habe [» Freak City «], und damals sehr begeistert war, ist der Autor so ein bisschen in Vergessenheit geraten bei mir. Bis dann meine liebe Susi mich wieder so extrem angefixt hat. Die gute Frau macht mich echt noch arm. Jedenfalls hat sie so sehr von „Wunderland“ geschwärmt, dass ich es prompt kaufen und umgehend lesen musste. Heute kann ich euch dann auch schon verraten, ob ich mich Susi’s Meinung [» hier « geht’s zu ihrer Rezension] anschließe, oder ob meine Erwartungen vielleicht doch ein wenig zu hoch waren. Falls ihr also neugierig seid, dann bleibt gerne dran. Viel Spaß bei der Rezension.
In diesem Buch treffen wir auf gleich mehrere Persönlichkeiten: vom Polizisten bishin zur Nonne. Und während mir persönlich alle noch fremd waren, da ich die Vorgängerbände der Reihe nicht kenne, sollte vor allem Kalkbrenner einigen ein Begriff sein, immerhin hat er bereits in 7 vorherigen Büchern die Hauptrolle gespielt und innerhalb dieser Reihe einiges erlebt. Aber trotz meiner fehlenden Kenntnisse über die Vorgeschichte des Polizisten, hatte ich überhaupt keine Probleme, ihn nachzuvollziehen. Martin Krist hat es geschafft, die wichtigsten Details zu Kalkbrenner’s Person ganz nebenbei, meist in einem Nebensatz, einfließen zu lassen und so manch offene Frage direkt im Keim zu ersticken. Obwohl ich nichts über diesen Mann wusste im Vorfeld, wurde er mir trotzdem binnen weniger Sekunden nahegebracht. Er erschien mir von Anfang an als sehr greifbar und authentisch; ein kleines bisschen klischeehaft vielleicht, aber dafür umso liebenswerter. Ein wenig brummelig und schroff hat noch keinem Ermittler geschadet, und so profitiert Kalkbrenner auch mehr davon, als dass es negativ ins Gewicht gefallen wäre. Er machte einen wahnsinnig guten Job, wirkte konsequent und autoritär und hatte dennoch seine weiche Seite, die ihm die Menschlichkeit verlieh. Ich hatte große Freude daran, die Geschichte an seiner Seite zu erleben; mit ihm gemeinsam zu überlegen, wo die Zusammenhänge lagen und wie sich alles aufklären sollte. Neben seinem Auftreten als stattlicher Kommissar, wurde ihm auch eine gute Portion Charme und Humor angefügt, sodass er als Person immer wieder für kurze Auflockerungen sorgen konnte. Allein im Umgang mit seinem Hund empfand ich den Mann mittleren Alters als unsagbar liebenswürdig und bodenständig.
Neben den polizeilichen Ermittlungen begleiten wir auch eine weitere Polizistin; nämlich Jamina. Eine junge Frau, die als alleinerziehende Mutter bereits alle Hände voll zu tun hat und ihre pubertierende Tochter nur schwer unter Kontrolle halten kann. Und dann kommt da auch noch dieser brisante Fall ins Spiel, der eigentlich ihre gesamte Aufmerksamkeit und Konzentration erfordert. Doch so einfach ist der Spagat zwischen Beruf und Familie nicht, und das zeigt Jamina ganz eindrucksvoll, indem sie immer wieder an ihre Grenzen stößt. Allein das machte sie zu einer sehr lebendigen, glaubhaften Persönlichkeit, mit der man nicht nur gern mitfiebert und mitermittelt, sondern auch mitleidet. Ich fühlte mich ihr von Anfang an sehr nahe; freute mich riesig, wenn die Perspektive zu ihr wechselte und merkte schnell, dass sie mehr ist als eine zweidimensionale Figur – sie mauserte sich fast zu einer richtigen Freundin für mich. Durch ihr Auftreten als Polizistin bot sie, im Gegensatz zu ihrer warmen Seite im Umgang mit ihrer Tochter, die perfekte Abwechslung. Sympathie, Menschlichkeit und echte Emotionen rundeten sie für mich schlussendlich perfekt ab.
Während Kalkbrenner also in die eine, und Jamina in die andere Richtung ermittelte, gab es noch eine weitere Perspektive, die wohl die am schwersten zu verkraftende war: die von Michel. Bereits der Klappentext kündigt an, dass Michel im zarten Alter von 6 Jahren seine Eltern durch einen tragischen Unfall verliert – aber was dann noch auf den Jungen zukommt, ist kaum in Worte zu fassen. Ich litt – ich litt wirklich enorm, wenn Michel zu Wort kam. Seine Kapitel sind kurz, aber unfassbar nahegehend und so schmerzlich, dass mir oft die Luft wegblieb. Durch die gewählte Erzählweise, nämlich in Form davon, dass er quasi mit seiner Schwester spricht, wird alles noch intensiver, noch brutaler, noch zerstörerischer. Aber eben auch lebensechter. Michel weckte in mir meinen Mutterinstinkt, erreichte mein Herz mit einer solchen Wucht, dass es bei jeder einzelnen Szene fast zu brechen drohte. Martin Krist hat diesen kleinen Mann unsagbar authentisch eingefangen und ihm mittels einfachen Details eine Stimme verliehen. Niemals hätte ich gedacht, dass mich ein 6-Jähriger mal so begeistern können wird, aber Michel hat es mit Leichtigkeit geschafft, mich für sich einzunehmen.
Weitere Nebenrollen treffen wir natürlich auch an, und die waren allesamt detaillreich genug, um sie sich vor Augen zu führen. Jedoch beschäftigt sich der Autor bewusst mehr mit den Hauptakteuren, was natürlich auch zweckdienlich war. Ansonsten gab es aber keine einzige Figur, zu der ich nicht irgendeine Art von Bindung – ob nun positiv oder negativ – herstellen konnte.
Der Fall, mit dem sich Kalkbrenner hier beschäftigt, schien sich zunächst nicht wesentlich von anderen Fällen zu unterscheiden. Aber Martin Krist wäre nicht Martin Krist, wenn er sich nicht hätte etwas einfallen lassen, das einem die Sprache verschlägt. Die ganze Idee, in Kombination mit dem Wissen, dass die Geschehnisse auf wahren Begebenheiten beruhen, ist dermaßen genial wie verstörend, dass man kaum glauben mag, dass sich sowas auch nur annähernd einmal zugetragen hat. Aber fangen wir vorn an:
Wir starten in das Buch an Michel’s Seite und lauschen ihm, während er mit seiner Schwester spricht. Und da offenbarte sich schon die erste Frage, die uns noch sehr lange beschäftigen sollte: was hat der kleine Michel und der tragische Unfall seiner Eltern, mit dem zu lösenden Fall zu tun? Wieso ist dieses Kind so wichtig, dass es sogar eine eigene Perspektive zugesprochen bekommen hat? Diese Überlegungen werden uns während des Lesens noch etliche Male begegnen – und da lag auch schon der erste Spannungspunkt. Dem Autor ist es geglückt, von vorn herein einen gewissen Sog zu entwickeln, der den Leser einfach nicht mehr loslässt. Doch auch der Fall an sich, auf den wir schon im zweiten Kapitel dann treffen, bietet eine Menge Raum für Spekulationen. Und das sind genau die Thriller, die ich so liebe. Thriller, bei denen ich die Möglichkeit habe, mir eigene Gedanken zu machen – eigene Schlüsse zu ziehen und einfach die Chance bekommen, den Fall vor dem Ermittlern zu klären. Thriller, bei denen man bewusst auf den Holzweg geleitet wird, um dann den größtmöglichen Überraschungseffekt zu erzeugen. Und genau so ein Thriller ist „Wunderland“ allemal.
Von Anfang an spannend, absolut wendungsreich und voller schockierender Momente. Martin Krist nimmt uns hier mit auf eine Reise in die Vergangenheit und in die tiefsten Abgründe der menschlichen Seele und in eine Welt, die man niemals freiwillig betreten würde. Er erzählt von Verlusten, von Tod, von Leid und von Neuanfängen; von körperlichen wie psychischen Schmerzen und zeigt damit auf, was ein Mensch ertragen kann, ohne daran zu zerbrechen. Dabei werden nicht nur Tabuthemen aufgegriffen wie die Flucht in den Drogenrausch, sondern auch viel härtere Folgen. Und gleichzeitig spielen sich eben auch die Ermittlungen ab. Kalkbrenner, wie er versucht, einen Mord aufzulösen, bei dem es weder Zeugen noch Täter zu geben scheint. Jamina, die ebenfalls ermittelt, und immer tiefer in die Abwärtsspirale gerät und Michel, der irgendwie, irgendwo auch mit drinhängen muss. Tausend Fragen, und immer wieder gibt es überraschende Antworten, die einen sprachlos machen und gleichzeitig wiederum zig neue Fragen aufwerfen. So entsteht ein irres Tempo, und die Ereignisse scheinen sich stellenweise richtig zu überschlagen – aber gleichzeitig baut der Autor auch noch die privaten Hintergründe der Figuren ein, sodass es nicht eine Sekunde eintönig wird.
Und dann kam das Ende. Ein Ende, das mir flau im Magen werden ließ und so unerwartet daher kam, dass es mich beinah umwarf. Schon der Weg bis zu diesem finalen Schlusspart war fast unmenschlich, aber dann drehte und wendete sich alles nochmal, und plötzlich steht man da und versteht die Welt nicht mehr. Eine unglaublich einfallsreiche, kluge Auflösung, mit der selbst der erfahrenste Thriller-Leser wohl niemals rechnet. Für mich ganz klar: genial! Sowohl Idee wie auch Umsetzung des ganzen.
Der Schreibstil von Martin Krist ist schon während des Einstiegs enorm fesselnd und ergreifend. Allein die Idee, Michel eine Stimme zu geben und seine Kapitel in Form der „Du-Perspektive“ zu schreiben, war schlicht perfekt. Aber auch den Rest erzählt er absolut greifbar und einnehmend, sehr rasant und trotzdem nicht emotionslos. Ich war von Anfang an versunken im Geschehen; manchmal so sehr, dass ich kurze Pausen einlegen musste, um zu Atem zu kommen. Man denkt sich richtig hinein in die einzelnen Szenen, ist Teil des Ganzen und längst nicht nur Zuschauer oder Beobachter. Durch die ganzen geschickt platzierten Wendungen kommt Fahrt in die Handlung und eben weil alles so plastisch dargestellt wurde, steigt der Spannungsbogen damit enorm an. Ich bin nur so durch die Seiten gerauscht, fühlte mich mitgerissen und involviert und genoss es – soweit man das bei diesem Thematiken sagen kann – diese Geschichte zu erleben.
Die Kapitel sind dabei kurz und prägnant, knackig und auf den Punkt gebracht. Und enden, wie so oft, mit absolut fiesen Cliffhangern, die einen zum weiterlesen animieren. Gerade die Frische, die durch die Wechsel entsteht, sorgt nochmal für weitere Abwechslung und zeigt, dass Polizeiarbeit und Privates durchaus Hand in Hand gehen kann.
„Wunderland“ von Martin Krist ist ein absolut perfekt durchdachter Thriller, der die menschlichen Abgründe zum Vorschein bringt und den Leser damit mehr als nur einmal völlig überrumpelt. Unfassbar schmerzlich, aber auch schmerzlich real erzählt er eine Geschichte, die viel mehr ist als einfache Ermittlungsarbeit. Sie basiert auf wahren Begebenheiten und schockiert deshalb nochmal auf ganz neuem Niveau. Hochgradig spannend und extrem wendungsreich baut der Autor eine Storyline auf, die man als Thrillerfan einfach gelesen haben muss. Beklemmend, rätselhaft und undurchsichtig. Besonders das kluge, einfallsreiche Ende machte mich sprachlos. Ein sympathischer Kommissar und weitere, authentische Persönlichkeiten rundeten das Werk schließlich ab und machten mir klar: das war ein absolutes Highlight!
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Martin Krist, geboren 1971, lebt in Berlin. Er arbeitete viele Jahre als leitender Redakteur bei verschiedenen Zeitschriften. Seit 1997 ist er als Schriftsteller tätig. Nach mehr als 30 Sachbüchern, darunter Biografien über die Hamburger Kiez-Ikone Tattoo-Theo, die Punk-Diva Nina Hagen, den Rap-Rüpel Sido, die Grunge-Ikone Kurt Cobain und den gewaltlosen Rebell Mahatma Gandhi, schreibt er seit 2005 Krimis und Thriller.
(c) by Ambra Kerr
An dieser Stelle möchte ich noch einmal darauf hinweisen, dass diese Rezension meiner ganz persönlichen Meinung entspricht und bei jedem Leser anders ausfallen kann. Außerdem möchte ich mich gerne bei Martin Krist bedanken: für alle Bilder und Klappentexte sowie Zitate benutzen zu dürfen.