||» Rezension «|| Liebes Kind [von Romy Hausmann]

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5. Januar 2022 0 Von Patchis Books
LIEBES KIND
Romy Hausmann
Thriller
Einzelband
432 Seiten
23. Oktober 2020
dtv Verlag
Paperback
15,90€
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#werbung #rezensionsexemplar


(c) by dtv Verlag

Weihnachten ist vorüber, das neue Jahr ist abgebrochen. Das heißt: es ist die perfekte Zeit für Thriller! Also stand ich vor meinem Regal und hab überlegt, welcher es denn nun sein soll. Und hängen geblieben bin ich bei „Liebes Kind“ von Romy Hausmann. Das Buch steht bereits seit kurz nach dem Erscheinungstermin hier und da ich damals enorm viel Gutes darüber gehört habe, war es nun an der Zeit, mich selbst davon zu überzeugen. Oder mich eines besseren belehren zu lassen? Das und noch vieles mehr möchte ich euch jetzt gern erzählen. Viel Spaß bei der ausführlichen Rezension. ♥

Im Klappentext steht „Dieser Thriller beginnt, wo andere enden“ und damit ist schon eine ganze Menge verraten. Denn entgegen der Gewohnheit starten wir hier an einer Stelle, die bei vielen anderen Thrillern als Epilog dient. Und damit ist alle Unvorhersehbarkeit dahin. Plötzlich hat man keine Ahnung mehr, in welche Richtung das Ganze verlaufen soll – wo der Spannungsbogen liegt und was sich die Autorin allgemein dabei gedacht hat. Auf Erfahrungswerte kann man also nicht zurückgreifen. Und das macht es bereits extrem undurchsichtig und interessant.
Romy Hausmann hat sich hier für eine andere Art von Thriller entschieden, dabei aber keineswegs auf die üblichen Attribute wie Spannung, Action und Beklemmung verzichtet. Von der ersten Seite an zog mich das Geschehen in seinen Bann und begeisterte mich mit seinem unklaren Verlauf. Ich fieberte auf Anhieb mit, empfand nicht nur die Idee, sondern auch die Umsetzung als sehr interessant und bemerkte schon früh, wie ich selbst erste Vermutungen aufstellte. Dass ich mit all meinen Thesen falsch lag, brauche ich wohl nicht extra noch zu erwähnen, oder? Die Szenen, die Rückblicke in die Zeit der Entführung darstellten, erzeugten eine wirklich beängstigende Atmosphäre, in die man sich als Außenstehender nur schwer hineinversetzen kann – die aber gerade deshalb so einnehmend ausfällt. Was Lena und ihre beiden Kinder da über mehrere Jahre hinweg erleben mussten, macht einen wütend und fassungslos und ist so bizarr, dass sich kaum in Worten beschreiben lässt. Was muss so etwas mit der Psyche eines Menschens machen? Wie erträgt man so was? Romy Hausmann hat auch darauf sehr eindrucksvoll geantwortet und genau das ebenfalls behandelt. Sie psychischen Störungen, die aus sowas hervorgehen waren intensiv beleuchtet und sehr gut recherchiert, ohne dass sie innerhalb des Buches zu viel Raum eingenommen hätten.
Dabei war es gar nicht mal die eigentliche Handlung, die mich so richtig catchte, sondern viel mehr die Erzählweise der Autorin. Denn wir haben hier gleich mehrere verschiedene Sichten, die uns sowohl Einblicke in die Polizeiarbeit, aber auch in die Köpfe von Opfer und dem Umfeld bietet. Eine Perspektive lässt uns durch die Augen von Hannah blicken – der 13-jährigen Tochter der Protagonistin. Und die hatte es wahrlich in sich. Das kleine Mädchen lebte über Jahre hinweg in Gefangenschaft, kannte Freiheit nur durch Bücher und lässt uns mit ihrer Sichtweise immer wieder ein Schauer den Rücken hinabjagen. Allein wie echt und glaubhaft Romy Hausmann dieses kleine Mädchen eingefangen und wiedergegeben hat, war erstaunlich – und packend zugleich. Das, was Hannah sagt, denkt und tut wirft zahllose offene Fragen auf und lässt einen immer wieder schockiert die Luft anhalten. Was muss in einem Kind vorgehen, das plötzlich aus dem gewohnten Umfeld gerissen wird? Doch nicht nur Hannah bietet diese Eigenschaften; auch Lena erhielt eine eigene Perspektive, die mindestens genau so spannend verpackt ist. Der stetige Wechsel zwischen Opfer-Sicht, Ermittlungen der Polizei und den Emotionen von Familienmitglieder, die Lena vor endlos langer Zeit verloren und plötzlich wieder haben, birgt viel Abwechslung und hält das Tempo permanent auf sehr hohem Niveau.
Ich gebe zu, auch wenn mit der Verlauf wahnsinnig gut gefiel und ich wirklich intensiv mitfiebern und mitfühlen konnte, so war der Ausgang doch nicht komplett überraschend. Der Gedanke, dass es darauf hinauslaufen könnte, kam mir bereits ab der Hälfte etwa; doch die Autorin hat es geschafft, das ganze so zu inszinieren und auszuarbeiten, dass es eigentlich vollkommen gleich ist, wie die Auflösung aussieht, denn der Weg dorthin hatte mich fest in seinen Klauen und das ist um so vieles mehr wert. Nichts desto trotz möchte ich auch den fulminanten Schlusspart nicht unter den Tisch fallen lassen, denn die Geschichte gipfelt in einem actiongeladenen Finale, bei dem das Ende ungewiss ist. Es war im gesamten also nicht der überraschendste, aber dafür ein sehr stimmiger, temporeicher Schluss, der das Buch perfekt abrundete.

Bei den Charakteren hab ich nun schon einiges vorweg genommen, gerade weil ich schon im vorherigen Abschnitt explizit auf Hannah eingegangen bin. Aber ich möchte es nochmal genauer tun: die 13-jährige Hannah ist eine wirklich besondere Persönlichkeit. Sie ist taff, mutig und überrascht durch eine riesige Bandbreite an Wissen, was sie aus Büchern gelernt hat. Aber man merkt eben doch auch, dass die Jahre in Gefangenschaft nicht spurlos an ihr vorbeigegangen sind – im sozialen Bereich lässt sie sich durchaus als zurückgeblieben bezeichnen, ohne das böse zu meinen. Aber ihre sozialen Kompetenzen sind, aus nachvollziehbaren Gründen, nicht die Besten. Romy Hausmann hat bei dieser Figur eine Mischung gezaubert, die an und für sich schon ein kleines Highlight ist. In Hannah vereinen sich so viele Facetten, dass sie unsagbar interessant ist – und obwohl sie einerseits so erwachsen scheint, ist das Kind in ihr doch nicht verloren gegangen. Sie ist begreift noch nicht alle Zusammenhänge und bietet mit gewissen Aussagen sogar den einen oder anderen Moment des Schmunzelns; weil sie in all dem Drama und dem Chaos eben auch eins ist: nämlich zuckersüß. Ich schloss das Mädchen wahnsinnig tief ins Herz und fand ihre Eigenheiten total sympathisch und glaubhaft. Allgemein ist auch das ein Attribut, was ich zu 100% mit Hannah in Verbindung bringe und mit dem ich sie mit einem einzigen Wort beschreiben würde: glaubhaft.
Andere Figuren hängen hinter der 13-jährigen fast ein wenig hinterher, denn sie nimmt schon sehr viel Raum ein. Trotzdem begleiten wir auch Lena, die den Strapazen ihrer Abgeschiedenheit nicht ganz so glimpflich entkommen ist. Sie leidet, und das spürt man in jedem Satz, der ihrer Perspektive entstammt. Ihre Ängste sind so greifbar, so nachvollziehbar und einfach großartig dargestellt, dass man gar nicht anders kann, als mit ihr mitzufühlen. Auch wenn das „hineinversetzen“ schwer fällt, so kamen Lena’s Emotionen doch nahezu ungefiltert bei mir an und ließen mich nicht nur einmal tief Luft holen. Und obwohl der Alptraum nun vorbei sein könnte, leidet sie noch immer unter Verfolgungswahn und sieht Geister – ebenfalls eine Tatsache, die ich ihr komplett abnahm und wahnsinnig gut nachempfinden konnte. Lena macht keine großartige Entwicklung durch, was aber auch gar nicht nötig gewesen ist, denn die verkörpert das perfekte Opfer und ist daher die ideale Besetzung für diesen Thriller.
Wen ich aber auch noch besonders hervorheben möchte, ist Lena’s Vater Matthias. Auch er hat von der Autorin seine eigenen Kapitel zugesprochen bekommen und bringt damit nochmal eine neue Sichtweise ins Spiel. Seitdem er vor etlichen Jahren seine Tochter verloren hat, verging kein Tag, an dem er nicht daran glaubte, sie wiederzufinden und machte dabei nicht nur einen Fehler. Er neigt dazu, impulsiv zu reagieren und dabei übers Ziel hinauszuschießen, was aber auch so nachvollziehbar war, dass ich ihm es keineswegs übel nahm. Matthias ist ein liebender, aufopferungsvoller Vater, dem man seinen Kampfgeist überhaupt nicht übel nehmen kann, weil man als Eltern wahrscheinlich genau so handeln würde. Man würde sich an jeden Strohhalm klammern und die Hoffnung niemals aufgeben – und das tut Matthias auch, nur eben etwas extremer. Trotzdem hatte er auch eine sanfte Seite, die besonders in Bezug auf seine Enkelin zur Vorschein kommt.
Ansonsten gibt es natürlich auch noch zahlreiche Nebenrollen; manche tragender, manche unbedeutender, aber im Gesamten kann ich sagen, dass sie alle detailliert genug dargestellt wurden, um sich ein Bild von ihnen zu machen. Der Polizist ließ sich genau so gut vor Augen führen, wie die Krankenschwester – der unbekannte Täter war genau so menschlich wie die Reporterin. Ich mochte die Charaktergestaltung von Romy Hausmann echt gerne; weil sich nicht zu viel mit unnötigen Infos beschäftigt wird, aber doch Tiefe im Spiel war.

Der Schreibstil von Romy Hausmann ist einfach und lässt sich deshalb sehr flüssig und schnell lesen. Ihre Worte wissen zu fesseln und die dabei entstehende Atmosphäre hat einen genau so sehr im Griff. Besonders positiv muss ich auch nochmal hervorheben, wie unterschiedlich die einzelnen Sichtweisen in Worte gepackt sind und wie viel Lebendigkeit genau das ins Spiel bringt. Jeder Charakter hat auch in der Erzählweise seine eigene Facette erhalten und dementsprechend authentisch wirkt das gesamte Buch auf den Leser. Die einzelnen Szenen ließen sich wunderbar leicht vor Augen führen und verströmen allesamt sehr unterschiedliche Stimmungen – von ruhig und leise, über beklemmend und furchteinflössend bis hin zu actiongeladen und temporeich. Langweilig wird es einem mit diesem Thriller jedenfalls nicht. Schon allein deshalb nicht weil sowohl Opfersicht als auch die polizeilichen Ermittlungen extrem glaubhaft und echt ausfallen und einem schlicht Spaß machen.
Und um auch nochmal hier kurz auf die Gliederung einzugehen: die verschiedenen Perspektiven wechseln sich in hohem Tempo ab; das heißt die einzelnen Kapitel sind kurz und knackig und lassen einen kaum los. Außerdem bieten sie, wie schon gesagt, eine ganze Menge Abwechslung und verbannen zähe Passagen komplett auf der Geschichte.

„Liebes Kind“ von Romy Hausmann ist ein außergewöhnlicher Thriller, den man so sicher noch nie – oder zumindest noch nicht oft – gelesen hat. Durch den interessant gewählten Einstiegspunkt bleibt der weitere Verlauf der Geschichte komplett undurchsichtig und die Überraschungsmomente haben umso mehr Potential, einen umzuhauen. Ich gebe zu, das Ende bzw. die Auflösung war nicht komplett unerwartet; doch trotzdem gefiel mir die Inszinierung des Thrillers und die Ausarbeitung dieser grandiosen Idee wirklich sehr gut. Auch die Erzählweise begeistert durch Authenzität und Frische. Hannah als Hauptfigur ist mindestens genau so interessant wie Lena; aber auch die Polizei macht einen guten Job. Kurz um: eine extrem spannende, mitreißende Geschichte mit einer bedrückenden Atmosphäre, tollen Protagonisten und einem nicht ganz so überraschenden Ende. Trotzdem gibt’s eine 100%ige Leseempfehlung für alle Thrillerfans!

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Romy Hausmann, Jahrgang 1981, hat sich 2019 mit ihrem Thrillerdebüt ›Liebes Kind‹ sogleich an die Spitze der deutschen Spannungsliteratur geschrieben: ›Liebes Kind‹ landete auf Platz 1 der SPIEGEL-Bestsellerliste, mit ›Marta schläft‹ folgte 2020 ihr zweiter Bestseller. Übersetzungen ihrer Bücher erscheinen in 25 Ländern, die Filmrechte wurden hochkarätig verkauft. Romy Hausmann wohnt mit ihrer Familie in einem abgeschiedenen Waldhaus in der Nähe von Stuttgart. 2022 erscheint ihr dritter Thriller ›Perfect Day‹.

(c) by dtv Verlag

An dieser Stelle möchte ich noch einmal darauf hinweisen, dass diese Rezension meiner ganz persönlichen Meinung entspricht und bei jedem Leser anders ausfallen kann. Außerdem möchte ich mich gerne beim dtv Verlag bedanken: für alle Bilder und Klappentexte sowie Zitate benutzen zu dürfen.